DIETER
BOGNER*
INTUITION UND KALKÜL
Gedanken zu den Kräftesystemen
von Walter Kaitna
„Hier liegt bestimmt eine Gesetzmäßigkeit zugrunde und es ist unser Glaube, daß auf diesem Wege das exakte Kunstwerk zustande kommen kann. ...
Wenn man zu dieser richtigen Auffassung der Kunst kommt, dann kann es keinen Unterschied mehr geben zwischen Wissenschaft und inspiriertem Schaffen.“
Anton von Webern, 1932 [1]
Die Verbindung von Grundfragen künstlerischer Gestaltung mit mathematisch beschreibbaren, gesetzmäßigen Zusammenhängen ist keine Erfindung unseres Jahrhunderts. ln der europäischen Kulturgeschichte begegnen wir diesem Denken in regelhaften Beziehungsgefügen bereits in der pythagoräischen Philosophie. So wird berichtet, daß Pythagoras die Ursache für den harmonischen Zusammenklang von Tönen im proportionalen Verhältnis der Länge gleichgespannter, schwingender Saiten erkannte und damit zu einer rational begründeten Einsicht in die Bedingungen des Tonsystems gelangte. Die Quelle des Schönen wird schon hier als mathematische Beziehung erkannt. Forschendes Interesse, mathematisches Denken und schöpferisches Gestalten gehen seither oft eine enge Verbindung ein. Das obige Zitat aus einer theoretischen Abhandlung Anton von Weberns über die Zwölftontechnik weist in diese Richtung des Denkens, und diesem ganz allgemein skizzierten geistigen Rahmen sind auch die Arbeiten von Walter Kaitna zuzuordnen.
ln den meisten Kulturepochen der Vergangenheit lassen sich Überlegungen über das Verhältnis des Schönen zum mathematisch Begründbaren und damit zum Verstehbaren aufzeigen. Diese Idee bestimmt auf eine jeweils spezifische Art sowohl die mittelalterliche Zahlenmystik als auch die Suche nach idealen, absolut gültigen Proportionsverhältnissen in der Renaissance, aber sie stellt auch einen wichtigen Ansatzpunkt in der konstruktiven Formgebung seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts dar.
Fast immer verbindet sich dieses nach Systematik strebende Denken mit Analogien in der Musik, die oft als Inbegriff harmonischer Gesetzlichkeit aufgefaßt wird.
Aufgabe der Kunstwissenschaft ist es, den jeweiligen Stellenwert dieses Denkens in den verschiedenen künstlerischen und kunsttheoretischen Systemen zu bestimmen, und die Art seiner Auswirkung auf das konkrete Kunstwerk zu untersuchen.
Theorien, die sich mit künstlerischen Ordnungssystemen beschäftigen, tendieren dazu, das phänomenal Gegebene jeweils als eine Totalität zu verstehen, deren Teile in gesetzmäßigem Verhältnis zueinander und zum Ganzen stehen: Das Wesen des Werkes wird nicht durch die individuellen Eigenschaften der Teile, sondern durch die exakte Bestimmung der Beziehungen zwischen ihnen definiert. Die Struktur gilt als der unsinnliche, rein intellektuelle Kern des Werkes, der vor allen anderen Bedingungen für die charakteristische Erscheinungsform des Wahrnehmungsgegenstandes verantwortlich ist. Ein weiteres Kennzeichen dieses Denkens ist, daß mit den als gesetzmäßig aufgefaßten Grundprinzipien vielfach symbolische Inhalte verbunden werden: Seit ältester Zeit und auch in der jüngsten Geschichte tauchen in diesem Zusammenhang oft Ideen von universalen kosmischen Harmonien, göttlicher Ordnung, absoluter Gesetzlichkeit usw. auf, die sich vermittels der Struktur im Werk äußern sollen. Mit solchen metaphysischen Kategorien suchen Künstler und Theoretiker ihre Systeme zu untermauern. Eine umfassende Geschichte der verschiedenartigen Erscheinungsformen dieses systematisierenden Denkens in der Kunst müßte noch geschrieben werden.
ln der Kunst unseres Jahrhunderts findet die Diskussion um das Verhältnis des Schönen zum rational Verstehbaren vor allem im Rahmen der konstruktiven Bewegung statt. Sie umfaßt dabei die verschiedensten ideengeschichtlichen Phänomene, die auch hier von mystisch gedeuteten Zahlenkombinationen als Grundlage der Formgebung bis zum künstlerisch-wissenschaftlichen Experimentieren mit dem Anspruch auf objektive Erkenntnis reichen.
Die geistigen und formalen Grundlagen für die heutigen Problemstellungen und Lösungen konstruktiver Künstler wurden in großen Zügen im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts gelegt. ln den zwanziger Jahren verstärkt sich in den verschiedensten geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen die Tendenz, die methodischen Voraussetzungen des jeweiligen Faches auf eine klare und exakt definierte Basis zu stellen. So wenden sich bildende Künstler und Komponisten, aber auch Kunstwissenschaftler und Philosophen gegen die Dominanz literarischer, aus dem Subjektiv-Emotionalen gestaltender Richtungen und setzen diesem, antiintellektualistischen’, expressiven Denken ein klares strukturelles Konzept entgegen. Nur dieses, so meinen sie, könne die Basis für eine rational begründete Formgebung und eine exakte, wissenschaftliche Forschung abgeben. Im Wien der zwanziger Jahre zählen die Zwölftontechnik, die kunstwissenschaftliche Strukturforschung und der logische Empirismus des Wiener Kreises zu den bedeutendsten Erscheinungsformen dieser geistigen Neuorientierung. Die Entwicklung einer seriellen Kompositionstechnik durch den niederösterreichischen Komponisten Josef Matthias Hauer geht einher mit ähnlichen Bestrebungen in der bildenden Kunst in Holland, Deutschland und der Schweiz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg tritt systematisch-strukturelles Denken und Gestalten vor allem seit den späten fünfziger Jahren als breite künstlerische Strömung hervor. Die vielfältigen Konzepte, die seither vorgelegt wurden, denken auf verschiedenste Weise jene Ansätze weiter, die von Künstlern wie Piet Mondrian, Theo von Doesburg, Richard P. Lohse, Max Bill oder Josef Albers in der Zwischenkriegszeit geleistet wurden.
Kräftekonstellationen
„. ... die freie Schöpfung des souveränen Gedankens bedient sich der mathematischen Mittel, um Gesetzlichkeiten in dem von ihr gewählten Material anzuordnen.“
Ernst Křenek, 1937 [2]
Seit dem Beginn der sechziger Jahre arbeitet Waller Kaitna an der schöpferischen Gestaltung und umfassenden Auslotung eines Grundkonzepts, das sich als ein von jeglicher zweckorientierten technisch-ökonomischen Nutzung losgelöstes Gedankensystem aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Diplomingenieur im Bauwesen herauskristallisiert hat.
Bereits als Assistent an der Technischen Hochschule beschäftigt sich Kaitna mit Forschungen über die Spannungsverhältnisse in verschiedenen Materialien unter sich verändernden Bedingungen. Zu dieser Arbeit gehört auch die anschauliche Darstellung der an sich unsichtbaren Vorgänge, die sich im Gefüge des Werkstückes vollziehen. Beobachtet wird dabei unter anderem das Zusammenwirken der einzelnen Kräfte in ihrer Tendenz, das System (Gefüge) in jedem Zustand im Gleichgewicht zu halten. Der Schritt vom passiven Beobachten und Visualisieren solcher Vorgänge zur selbständigen künstlerischen Nutzung dieses in jahrelanger praktischer Erfahrung gewonnenen Wissens um elementare Zusammenhänge setzt eine andere intellektuelle Orientierung voraus, als sie dem reinen Forschen zugrunde liegt Die Freiheit des Gestaltens in dem selbst erstellten gesetzlichen Rahmen und das schöpferische Weiterdenken der in ihm festgelegten Bedingungen stellt einen vom wissenschaftlichen Beobachten verschiedenen Weg der Erkenntnisfindung dar.
Die zentralen Begriffe in Kaitnas konstruktiv-strukturellem Konzept sind die, Kraft’ und das, Gleichgewicht’; seine Arbeiten zielen auf die Verbindung und anschauliche Darstellung dieser beiden Phänomene, die zu den grundlegenden Faktoren der menschlichen Erfahrung zählen.
Die Gestaltung von Gleichgewichtsverhältnissen in künstlerischen Werken ist seit jeher ein mehr oder weniger bewußtes Anliegen der Künstler gewesen. Doch erst Piet Mondrian hat in der bildenden Kunst die Beschäftigung mit dem kompositorischen Gleichgewicht als zentralen Darstellungsinhalt verabsolutiert. Sein Ideal ist die aus dem extrem Gegensätzlichen zur schwebenden Ruhe gebrachte Komposition. Das Gleichgewicht, das Mondrian und viele seiner Kollegen und Nachfolger durch, Auswiegen’ von Formen und Farben in der Bildfläche oder im Raum zu erzielen trachten, wird rein intuitiv aus dem Empfinden gewonnen. Doch schon hier bewegt sich die gestalterische Freiheit nur innerhalb der a priori festgelegten und als Gesetz aufgefaßten Grenzen, die zum Beispiel durch die Beschränkung auf Horizontale und Vertikale definiert werden. Das Ergebnis dieses Gestaltens wird als im Gleichgewicht befindlich empfunden, seine Bedingungen können aber nicht rationalisiert werden. ln der folgenden Entwicklung wird die Durchschaubarkeil der die Bildwirkung bestimmenden Grundlagen zu einem zentralen Anliegen systematisch-struktureller Gestaltung. Die Künstler werden dabei von der Überzeugung geleitet, daß die Struktur, das heißt der gesetzmäßige Zusammenhang der Teile untereinander und mit dem Ganzen das konstitutive Element aller erfahrbaren Phänomene sei. Soll das Kunstwerk Erkenntnis über grundlegende Zusammenhänge vermitteln, dann muß die Zurückführbarkeil des komplexen Ganzen auf einfache, regelhaft geordnete und damit verstehbare Grundbeziehungen zur Bedingung künstlerischen Gestaltens gemacht werden.
Walter Kaitna nimmt mit seinen Kräftesystemen zu diesen Grundprinzipien konstruktiver Kunst in ganz spezifischer Art Stellung. Die Stabobjekte veranschaulichen eine neue Vorstellung von der künstlerisch gestalteten Gleichgewichtsbeziehung als Formprinzip und ihrer rationalen Grundlegung: Es herrscht in diesen Objekten Identität zwischen der visuell erfahrbaren Form und den diese bedingenden, physisch in sie eingebrachten, meß- und berechenbaren Kräften. Die Biegekurve der innerhalb ihrer Elastizitätsgrenze gebogenen, also nicht verbogenen Metallstäbe entspricht derjenigen Energie, mit deren Hilfe die Formveränderung herbeigeführt wird. Die Kraft, und das ist ein wesentlicher Aspekt, bleibt in jedem Stab, lebendig’ erhalten; läßt man ein Ende aus, dann schnellt er wieder in seine Ausgangsstellung zurück, das heißt in eine gerade, entspannte Position. Darin liegt die latente Labilität und potentielle Veränderbarkeit der Kräftesysteme. Die Form der Stäbe ist der reine Ausdruck der in sie eingebrachten Kräfte; die Gestalt der Stabobjekte ist die Funktion mehrerer verschiedener, doch sich im Gleichgewicht haltender Kräfte. Die Summe aller einzelnen an der ihnen gemeinsamen, idealen’ Mitte ansetzenden Kräfte muß somit Null ergeben. Diese Mitte ist als entspannte Gerade vorstellbar, denn sie tritt nicht als konkretes Element in Erscheinung; sie ist die nur gedanklich erfaßbare vertikale Mittelachse, in der sich die Kräfte gegenseitig aufheben, also in gewissem Sinne die ‚0’-Linie des Systems.
Am Beginn des Werkentstehungsprozesses steht aber nicht das Kalkül: Kaitna entwirft die Stabobjekte nach subjektiven Formvorstellungen innerhalb des durch die oben skizzierten allgemeinen Grundbedingungen vorgegebenen Rahmens. Erst im nächsten Schritt wird die intuitiv gewonnene Idee rationalisiert: Die Position jedes einzelnen Stabes wird genau berechnet und durch den Neigungswinkel und die Richtung der Bohrung in der Grundplatte fixiert. Wenn die Stäbe in die Basis eingesetzt und miteinander an der Spitze verbunden sind, dann hält sich das System in seiner Bezogenheit auf die gedachte Vertikalachse im Gleichgewicht. Intuition und Kalkül gehen eine Synthese ein; Unanschauliches wird zur Anschauung gebracht. Kaitnas Herkunft aus der technischen Disziplin bewahrt ihn vor einer metaphysischen Deutung dieses Formkonzepts: Als Leitidee seines Tuns gilt die Forderung nach präziser Beschreibbarkeil und damit Verstehbarkeil seiner schöpferischen Idee vom erlebbaren, flexiblen Gleichgewicht.
Tonreihen
„Struktur ist eine Gesamtheit von Elementen, zwischen denen Beziehungen bestehen, und zwar solcherart, daß jede Modifikation eines Elements oder einer Beziehung eine Modifikation der anderen Elemente oder Beziehungen nach sich zieht.“
Flament [3]
Indem die individuell geformten Stäbe eine sich im Gleichgewicht befindliche Totalität bilden, ist ihr Verhältnis zueinander kein beliebiges, sondern wird durch wechselseitige Abhängigkeiten bestimmt. Die Veränderung einer Komponente zieht zwangsläufig die Veränderung eines oder mehrerer anderer Elemente nach sich, um das System im Gleichgewicht zu halten. Somit kann von einer Ausgangssituation durch systematische Veränderung einzelner Komponenten eine lange Reihe logisch verwandter Objekte abgeleitet werden.
Kaitna geht von der Annahme aus, daß die durch Zahlenverhältnisse ausdrückbare Gleichgewichtsbeziehung (Struktur) der Kräftesysteme in sich die Bedingungen für eine erfahrbare harmonische Wirkung enthält, und daß diese durch verschiedenartige Wahrnehmungsphänomene zur sinnlichen Erfahrung gebracht werden kann. Diese Idee führt ihn bereits in den siebziger Jahren zur Umsetzung der aus den Stabobjekten gewonnenen Größen in elektronisch realisierte Tonreihen. Dies ist deshalb möglich, weil die als Spannung in die einzelnen Stäbe eingebrachte Kraft als Frequenz berechnet und mittels eines computergesteuerten Frequenzgenerators zum Klingen gebracht werden kann. Kaitna strebt dabei keinesfalls eine synästhetische Umsetzung des Formeindrucks an; vielmehr handelt es sich um ein Experimentieren, das die Übertragbarkeit struktureller Bedingungen und des ihnen eigenen Wesens in andere Wahrnehmungsformen untersucht. Das Intervallverhältnis zwischen den auf die räumliche Mitte des Objekts bezogenen und im Gleichgewicht befindlichen Kräften und den in der Zeit gereihten Tönen weist strukturelle Identität auf. Obwohl aus dem hörbaren Frequenzbereich ein beliebiger Abschnitt ausgegrenzt wird, der in keinem Zusammenhang mit dem traditionellen Tonsystem steht, wirken die Tonfolgen harmonisch ausgeglichen: Der den Stabobjekten eigene Gleichgewichtszustand tritt demnach auch unter völlig andersgearteten Wahrnehmungsbedingungen als bestimmender Faktor hervor. Parallel zur oben erwähnten fortschreitenden Veränderung des Ausgangsobjekts entstehen lange Tonreihen, die die Formgrundlagen (Kräfteverhältnisse) der einzelnen aus dem Urtypus entwickelten Einheiten in der zeitlichen Dimension realisieren.
Farbgestaltungen
„Das rationale Prinzip jeder Epoche besitzt einen nur dieser adäquaten Ausdruck.“
Richard Paul Lohse, Entwicklungslinien 1943-73 [4]
Werner Hofmann hat in einem Aufsatz über die „Beziehungen der Malerei und Musik“ folgende methodische Grundbedingung für eine adäquate Auseinandersetzung mit dieser Frage gefordert: „Will man Malerei und Musik begründet aufeinander beziehen, muß man den Modellcharakter ihrer Strukturen herausarbeiten. Nur darin sind sie einander vergleichbar. ... Von selbst versteht sich, daß der. ... Strukturvergleich keinen Anspruch auf Ausschöpfung der spezifischen künstlerischen Substanz von Musik- und Malwerken erheben kann.“ [5] Diese Aussage zielt auf den Strukturvergleich zwischen Kandinskys und Mondrians Bildkonzepten mit der Phase freier Atonalität bei Schönberg einerseits und mit der darauf folgenden strukturell gebundenen Zwölftontechnik andererseits. Was der Forscher hier als methodische Grundlage für die vergleichende Untersuchung von Kunstwerken verschiedener Gattungen fordert, das entspricht den von Kaitna entwickelten Prinzipien, die ihm eine rationale Verbindung seines schöpferischen Arbeitens im Bereich der bildenden Kunst mit jenem der Töne ermöglichen. Auch ihm geht es nicht darum, die Phänomene des einen Gebietes vollständig in das andere Medium zu übertragen. Dagegen interessiert ihn die Frage, zu welchen Ergebnissen man bei struktureller Gleichheit, doch bei Verwendung verschiedenster, Materialien’ gelangt.
Bereits in den zwanziger Jahren lassen sich ähnliche Analogien zwischen dem Denken der kunstwissenschaftlichen Strukturforschung und den Problemstellungen und Lösungsversuchen der konstruktiven Kunst aufzeigen. Der wechselseitige Austausch der Überlegungen und Erkenntnisse, die Wissenschaftler und Künstler jeweils gewinnen, könnte für beide Seiten nutzbringend sein. Weberns anfangs zitierte Überzeugung, daß es keinen Unterschied gebe zwischen Wissenschaft und inspiriertem Schaffen, weist bereits in den dreißiger Jahren in diese Richtung interdisziplinärer Zusammenarbeit.
ln Wien besteht eine alte Tradition, Musik und Malerei in Verbindung zu bringen. ln der expressionistischen Richtung vertritt Arnold Schönberg um 1910 diese Idee und findet auf diesem Weg einen engen Kontakt zu Kandinsky. Johannes Itten trifft während seiner Wiener Jahre in Josef Matthias Hauer den kongenialen Partner für einen intensiven Gedankenaustausch über diese ihn intensiv beschäftigende Frage. Doch in der von Werner Hofmann skizzierten strukturellen Übereinstimmung von malerischen und musikalischen Grundprinzipien gelangt nur Hauer zu einem eigenständigen theoretischen und praktischen Ansatz. Mit der Idee, die in seinen Zwölftonspielen festgelegten Intervallverhältnisse über den zwölfteiligen Farbkreis zur Gestaltung von, Zwölftonbildern’ in Form von geknüpften Teppichen zu gelangen, entwickelt er in den dreißiger Jahren das konsequenteste Konzept dieser Art. [6] Doch bleiben Hauers Überlegungen zu diesem Problem Visionen, die zu keiner Realisierung führen sollten. Sein Denken hat aber dazu beigetragen, daß sich Walter Kaitna vor einigen Jahren auch mit der Frage zu beschäftigen begann, unter welchen Bedingungen die aus den Stabobjekten gewonnenen strukturellen Verhältnisse als Grundlage für Farbgestaltungen dienen könnten. Er geht davon aus, daß jeder Stab durch zwei Faktoren bestimmt wird: Durch die seine Biegung bestimmende Kraft und durch die Richtung, in die sie weist. Während Kaitna in den Tonreihen nur die Kraftkomponente als Bezugsgröße einbringt, verwendet er für die Farbgestaltungen diese beiden sich wechselseitig bedingenden Parameter: Während aus dem Verhältnis der Richtungen durch Bezugnahme auf den Farbkreis die Kombination der Farbwerte bestimmt wird, gewinnt Kaitna aus der Größe der angewandten Kraft die Ausdehnung der als Träger der Farbe notwendigen Form. Die konkrete Gestalt und die Anordnung der Farbflächen bleibt der Entscheidung des Künstlers überlassen. Kaitnas Tonreihen und Farbgestaltungen führen vor Augen, daß es bei Strukturübertragungen gilt, die jedem Medium adäquate Art der Vermittlung zu finden und das Verhältnis von struktureller Bindung und gestalterischer Freiheit jeweils neu zu definieren.
Die obigen Ausführungen versuchen, dem Leser punktuell Einblick in das Denken und Gestalten Walter Kaitnas zu gewähren und seine Verwurzelung in einer sowohl historisch als auch zeitgenössisch verbreiteten Kunstrichtung anzudeuten; dabei zeigt sich, daß die Beschäftigung mit Strukturkonzepten in der Kunst und in der Kunstwissenschaft gerade in Österreich eine lange Tradition hat. Trotzdem besteht ein starker Widerstand gegen diese „intellektualistische“ Kunst. Ganz allgemein wird spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Forderung nach einer intellektuellen Auseinandersetzung mit Kunstwerken gestellt. Die Entstehung kunsthistorischer und kunstwissenschaftlicher Forschung ist nur eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Rationale Einsicht in Kunstwerke ist nicht ein unabdingbares Erfordernis für eine adäquate Auseinandersetzung mit ihnen; das gilt für gegenständliche, erzählende Werke ebenso wie für informelle Farbkompositionen oder geometrische Formkombinationen. Strukturelle Kunst zielt wie jede Kunst darauf ab, den Betrachter direkt anzusprechen. Sie schafft aber mittels der dem Werk zugrundeliegenden eindeutig bestimmbaren Bedingungen Voraussetzungen für eine rational begründbare Vermittlung wesentlicher Aspekte ihrer Existenz. Die Kräftesysteme von Walter Kaitna erfordern grundsätzlich keine ,Erklärung’, doch ein ,Nachdenken’ ihres Entstehungsprozesses und ihrer Idee vom anschaulichen Gleichgewicht der Kräfte vermittelt in Wechselbeziehung mit dem Endergebnis Einsichten, die die rein emotionale Erlebnismöglichkeit des gegebenen Werkes wesentlich erweitern können.
Anmerkungen
[1] Anton von Webern, Der Weg zur neuen Musik, Wien 1960, S. 60.
[2] Ernst Křenek, Über neue Musik, Wien 1937, S. 80.
[3] Zitat aus: Michael Oppitz, Notwendige Beziehungen – Abriß der strukturalen Anthropologie, Frankfurt 1975, S. 19.
[4] Eugen Gomringer, Walter Heckmanns u. a., Richard Paul Lohse, Köln 1973, S. 30.
[5] Werner Hofmann, Beziehungen zwischen Malerei und Musik, in: Katalog der Ausstellung „Schönberg-Webern-Berg“, Wien, Museum des 20.Jahrhunderts, 1969. Zitiert nach dem Neudruck in: W. Hofmann, Gegenstimmen, Frankfurt 1979, S. 84.
[6] Dieter Bogner, Die geistesgeschichtliche Stellung des Komponisten Josef Matthias Hauer, in: Morgen, Heft 18/81, S. 273.
* Univ.-Doz. Dr. Dieter Bogner; Kunsthistoriker, Museumsplaner und gemeinsam mit Gertraud Bogner Mitbegründer des „Kunstraum Puchberg | Schloss Puchberg am Kamp“. Dieser Text wurde
publiziert in: Walter Kaitna – Kräftesysteme, Werkskatalog, Wien 1982 |

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